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6 Die komplexe Wechselstromrechnung

6 Die komplexe Wechselstromrechnung

6.1 Grund für die Anwendung der komplexen Rechnung

Sinusförmige Größen (auch harmonische Funktionen genannt) sind bei vorgegebener Frequenz eindeutig durch Angabe ihrer Amplitude und ihrer Phasenlage (dem Phasenwinkel) beschrieben. Sie haben damit gleiche Eigenschaften wie komplexe Zahlen, die eindeutig durch ihren Betrag und ihr Argument (Winkel zwischen reeller Achse und zugehörigem Zeiger) beschrieben werden. Es ergibt sich eine wesentliche Vereinfachung der Berechnung von Summen, Differenzialquotienten und Integralen von harmonischen Funktionen durch die komplexe Darstellung von Zeigern in der Gauß`schen Zahlenebene.

6.2 Die Zeigerdarstellung in der Gauß`schen Zahlenebene



Beschreibt man den Endpunkt eines Zeigers

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, der vom Nullpunkt der Gauß'schen Zahlenebene ausgeht, durch eine komplexe Zahl, so ist mit dieser auch der komplexe Zeiger eindeutig bezeichnet:

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Für die komplexe Darstellung der Zeiger werden die gleichen Symbole verwendet, wie für die Zeiger selbst, d. h. man bezeichnet

  • komplexe Zeiger mit unterstrichenen Buchstaben
  • Beträge mit nicht unterstrichenen Buchstaben

Der Betrag eines Zeigers ergibt sich in der komplexen Darstellung zu

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Der Winkel 

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des Zeigers 
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 mit der reellen Achse ist

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 wird gegen den Uhrzeigersinn als positiv gezählt.

Beachte:
Der Winkel 

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kann in allen vier Quadraten liegen, Entscheidung durch Vorzeichen von Realteil und Imaginärteil. (Die Arcus-Tangens-Funktion auf Rechnern ist mehrdeutig!)

Der Betrag eines Zeigers lässt sich über den Winkel 

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(seine Phasenlage) in Realteil und Imaginärteil zerlegen.

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     Realteil

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      Imaginärteil 

Der Zeiger ist dann als

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darstellbar.

Eine weitere Schreibweise ergibt sich aus der Euler'schen Gleichung

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Diese Darstellung ist besonders anschaulich; sie beschreibt den Zeiger

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\ durch einen reellen Zeiger
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, der durch Multiplikation mit
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 aus der reellen Achse um den Winkel 
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gedreht ist. 

Es ist anschaulich, dass die Differentiation nach 

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der beiden Gleichungen und identische Ergebnisse, nämlich eine Drehung um 
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(Multiplikation mit
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) liefert:

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Auch die Ergebnisse einer Integration, nämlich eine Drehung um

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, sind identisch.

Es gibt also folgende Schreibweise von Zeigern, die je nach der mit ihnen durchzuführenden Rechenoperationen vorteilhaft sind:

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mit 

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 und 
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6.3 Rechenregeln

6.3.1 Addition und Subtraktion von Zeigern


Die Summe bzw. Differenz komplexer Ausdrücke ergibt sich als die Summe bzw. Differenz ihrer Real- und Imaginärteile.



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Die Addition und Subtraktion von Zeigern komplexer Zahlen entspricht der Vektoraddition bzw. Vektorsubtraktion in der Ebene.

6.3.2Multiplikation und Division von Zeigern

6.3.2.1 Die Multiplikation ist in der Exponenzialfunktion sehr viel übersichtlicher als in der polaren Form oder der kartesischen Form.


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Die Multiplikation zweier komplexer Zahlen ergibt also eine komplexe Zahl, der Betrag gleich dem Produkt der Beträge der beiden komplexen Faktoren ist und deren Argument gleich der Summe der Argumente der beiden komplexen Faktoren ist.

Für die Division folgt entsprechend:

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6.3.3 Differentiation und Integration


Bei der Anwendung in der Elektrotechnik ist α oft zeitabhängig (s. u.).

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und es soll nach t differenziert oder integriert werden.

Für

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ist das der Differenzialquotient eines komplexen Zeigers, also eines komplexen Ausdruckes, der einen sich mit 
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ändernden sinusförmigen Augenblickswert symbolisiert, ergibt sich für
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 zu:

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Die Differentiation einer harmonischen Funktion ist also im Komplexen auf eine Multiplikation mit 

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zurückgeführt. In dieser Tatsache liegt der wesentliche Grund für die Nutzung der komplexen Rechnung.

Der Zeiger 

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ist also gegenüber dem Zeiger 
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um den Winkel
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in positiver Richtung gedreht.

In Umkehrung der Differenzialoperation gilt für die Integration:


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6.4 Anwendung der komplexen Rechnung in der Wechselstromtechnik

6.4.1 Darstellung von harmonischen Funktionen durch komplexe Zahlen

Die Kirchhoff`schen Regeln gelten bei sinusförmigen Spannungen und Strömen zu jedem Zeitpunkt:

Knotengleichung: 

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, Maschengleichung:
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Stellt man z. B. die Ströme (sinngemäß Spannungen für die Maschengleichungen) in der Form

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dar, dann lautet eine Knotengleichung mit der Summierung über alle Zweige

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:

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Dies kann nur erfüllt sein, wenn

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ist. Anderenfalls wäre Gleichung (6.6) bei 

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bzw. 
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nicht erfüllbar.

Alle sin-Terme und cos-Terme sind somit getrennt zu behandeln und beeinflussen sich bei der Summation nicht.

Genau das Gleiche ergibt sich auch, wenn man die Ströme der Form (6.6) als komplexe Zahlen schreibt:


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(

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und 
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sind entsprechend Gleichungen (6.1) und (6.2) zu ermitteln, 
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ist der Effektivwert zu
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).

Zwei komplexe Zahlen sind ja nur gleich, wenn die Realteile und die Imaginärteile gleich sind.

Alle vorkommenden Ströme und Spannungen haben die gleiche Frequenz, enthalten also in der komplexen Schreibweise den Faktor

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. Man kann deshalb alle vorkommenden Gleichungen durch den Faktor 
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dividieren und es verbleiben in allen Gleichungen die komplexen Effektivwerte:

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  bzw. 
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Diese Größen trägt man häufig als Zeiger in die Gauß'schen Zahlenebene ein und bezeichnet dies als Zeigerbild der Ströme und Spannungen.

Die Effektivwertzeiger sind zeitlich konstant. Sie haben eine Länge, die dem Effektivwert entspricht und eine Lage in der Gauß'schen Zahlenebene, die ihrer Phasenlage zum Zeitpunkt 

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entspricht.
Gelegentlich ist dennoch die Vorstellung hilfreich, dass sich alle Zeiger mit der gleichen Winkelgeschwindigkeit ω entgegen dem Uhrzeiger drehen.

Die sinus- oder cosinusförmigen Zeitfunktionen von Strom und Spannung können symbolisch durch rotierende Zeiger in der komplexen Ebene dargestellt werden: Dabei ist die Amplitude der harmonischen Funktion proportional dem Betrag der zugeordneten komplexen Zahl und das Argument (der zeitproportionale Winkel

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) der harmonischen Funktion gleich dem Argument (Winkel zwischen dem Zeiger und der reellen Achse).

Man ordnet also zu:

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Ersetzt man gemäß (6.7) alle Ströme und Spannungen durch die zugeordneten komplexen Größen, dann bleibt mit Effektivwertzeigern:

Knotengleichung:      

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Maschengleichung:   
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Es zeigt sich, dass durch die komplexe Schreibweise und Anwendung der Regeln der Rechnung mit komplexen Zahlen die Berechnung von Netzwerken für Wechselstrom wesentlich vereinfacht wird.

6.4.2 Das Ohm'sche Gesetz und der Scheinwiderstand, Impedanz

Der entsprechend dem Ohm'schen Gesetz als Quotient von Strom und Spannung definierte Scheinwiderstand (Impedanz) von Wechselstromkreisen

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berechnet sich für sinusförmige Größen gleicher Frequenz zu

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     mit   
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 ist allgemein eine komplexe Größe, die jedoch im Gegensatz zu den Spannungen und Strömen keine Zeitabhängigkeit aufweist.

Das Ohm`sche Gesetz in der komplexen Ebene lautet also

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Für den Ohm`schen Widerstand, die Induktivität und die Kapazität ergibt das:


Zeitbereich

komplexe Ebene

Ohm'scher

Widerstand

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(
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und 
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in Phase, 
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ist reelle Größe)

Induktivität


(s. folgendes Zeigerbild)

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(Drehung um
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)

Kapazität


(s. folgendes Zeigerbild)

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(Drehung um
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)


Die Beträge der rein imaginären Größen 

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und
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bezeichnet man als „Reaktanz"


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Für Induktivitäten und Kapazität ist dies anschaulich in der Gauß`schen Zahlenebene darstellbar:
Induktivität

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Kapazität
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Anmerkung :
Wenn die Zählpfeile für

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und 
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geändert werden, ändern sich auch die Zeigerbilder!

6.5 Berechnung von Wechselstromkreisen mit komplexen Rechnung

Die Berechnung soll an folgenden Beispielen gezeigt werden. Mit den angegebenen Rechenregeln ist eine rein formelmäßige Abarbeitung möglich (Beispiel in 6.5.1). Meistens bringt aber die vorherige Erstellung eines Zeigerbildes eine erheblich bessere Übersicht und hilft, Fehler (gerade bei den nicht eindeutigen Umkehrfunktionen der trigonometrischen Funktion) zu vermeiden. Folgendes Vorgehen ist zu empfehlen:

  • ohne Maßstäbe
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    zeichnen
  • „innen" beginnen
  • „gemeinsame" Größe vorgeben
  • ggf. rechnen und maßstabsgerecht zeichnen


Dieser Weg wird im Beispiel 6.5.2 angewendet, das auch die Begriffe verdeutlicht.

6.5.1 Parallelschaltung von R und L

Zu berechnen: 

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nach Betrag und Phase, 
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gegeben. Nach der Knotenregel ist

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Also ist

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oder allgemein

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d. h. analog zur Parallelschaltung Ohm`scher Widerstände!

Betrag:

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Der Phasenwinkel 

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zwischen 
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und 
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ist

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6.5.2 Netzwerk mit Widerständen, Induktivität und Kapazität

Beispiel:



Zunächst wird schrittweise ein Zeigerdiagramm ohne Maßstäbe gezeichnet.

1. 

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und 
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ist „innen", der Strom ist „gemeinsam" und wird vorgegeben.
2.Dann folgen die Spannungen an 
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und 
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und als Summe die Spannung an
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.
3.Die Spannung an 
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ist gleich der Spannung an
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. Es folgt der Strom durch 
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und als Summe der Ströme der Strom durch
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.
4.Mit dem Strom durch 
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ergibt sich die Spannung an 
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und als Summe dann die Spannung
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.


Diese Schritte können im Einzelnen durch Rechnung nachvollzogen werden:

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woraus nun alle Ströme und Spannungen ermittelt werden können. Insbesondere ergibt sich die Impedanz 

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zu:

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Für 

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ist
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, es ist dann
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Für 

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ist
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In diesem Beispiel wird deutlich, was „innen" bedeutet. Würde man bei der gegebenen Spannung 

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beginnen, dann müsste diese in die beiden Teilspannungen 
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und 
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aufgeteilt werden. Zwar ist dies mit dem Thaleskreis im aktuellen Fall noch leicht möglich, aber bei komplizierten Netzwerken ist die Aufteilung sehr schwierig. Mit einem Weg von „innen" kommt man bei den meisten Netzwerken nahezu zwangsweise zu eine Lösung.

6.6 Leistung bei Wechselstrom

Es ist allgemein

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wobei 

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und 
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die Effektivwerte sind.

Als Mittelwert über eine Periode ergibt sich daraus die mittlere Leistung, die als Wirkleistung bezeichnet wird:  

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            Einheit:
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 wird als Leistungsfaktor bezeichnet. Da Kabelquerschnitte usw. nach dem Strom ausgelegt werden müssen, ist es sinnvoll, eine vom Leistungsfaktor unabhängige Größe zu definieren, die Scheinleistung:

   

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      Einheit: 
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(was statt 
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benutzt wird, um auf Scheinleistung hinzuweisen)

Mit der Definition der Blindleistung

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, als Art Differenz zwischen 
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und 
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folgt für die Blindleistung wegen

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       Einheit: var (statt 
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entsprechend
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)

Die Stromanteile

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und
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werden als Wirkstrom 
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und Blindstrom 
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bezeichnet.

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Die Blindleistung ist (bei sinusförmigen Spannungen und Strömen) eine Leistungspendelung, die dadurch entsteht, dass sich die in der Induktivität gespeicherte magnetische Energie bzw. die in einer Kapazität gespeicherte Feldenergie periodisch ändert.

Gelegentlich kommt der Trugschluss vor, dass die Blindleistung eine Art Verlust sei. Das ist falsch! Bei einem üblichen aus einem Spulensystem bestehenden Elektromotor wird die Blindleistung zur periodischen Ummagnetisierung benötigt. Sowohl die an der Welle abgegebene mechanische Leistung als auch die in Form von Wärme abgegebene Verlustleistung sind dauerhaft aus dem elektrischen System verloren. Beides ist aus elektrischer Sicht Wirkleistung.

Da der Blindstrom eines Verbrauchers in den Zuleitungen Verluste erzeugt, versucht man bei großen Verbrauchern den Blindstrom in der dargestellten Weise zu kompensieren. Man erkennt, dass durch den Kompensationskondensator der Strom 

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in der Zuleitung deutlich vermindert werden kann. Man sieht an dem Zeigerbild, dass es kein großer Nachteil ist, wenn 
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nicht ganz den Blindstrom 
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kompensiert, die Länge des Zeigers 
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ist dadurch kaum größer als
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. Praktisch kompensiert man meist bis
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, was einem Winkel von 
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entspricht. Dafür kann man nach Gleichung (6.9) berechnen, das 
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nur um etwa 
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größer als 
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ist.

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